Wir benutzen Sprache, um die Welt zu verstehen und zu erklären. Dabei ordnen wir die Erscheinungen unserer Welt bestimmten Kategorien zu.
In einer Forschungsrichtung der Sprachwissenschaft, der Prototypensemantik, fassen die Wissenschaftler jede Kategorie als einen großen Kreis auf, der einen klar definierten Mittelpunkt und einen unscharfen Rand hat. Den Mittelpunkt bildet der beste Vertreter der Kategorie, der Prototyp. Dieser erfüllt viele Kategoriemerkmale und wird von vielen Menschen einer Kultur an erster Stelle genannt, wenn nach einem typischen Beispiel für eine Kategorie gefragt wird.
Denken Sie bitte jetzt an ein Tier.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Sie nicht an eine Kellerassel gedacht. Und wenn die Umstände es nicht gerade herausfordern, auch nicht an eine Spinne. Vielleicht haben Sie an einen Hund, eine Katze, eine Kuh oder ein Schwein gedacht. Die meisten von uns denken beim Begriff „Tier“ nämlich an ein Säugetier.
Die genannten Vierbeiner sind – neben einigen anderen – Prototypen der Kategorie „Säugetier“. Sie sind lebend gebärend, säugen ihre Jungen, regulieren ihre Körpertemperatur etc. Am Rand der Kategorie „Säugetier“ befinden sich zum Beispiel eierlegende Säuger wie etwa Wale, die von manchen wegen ihres Lebensraums und ihrer Fortbewegungsweise fälschlicherweise den Fischen zugeordnet werden. Prototypische Fische sind die Forelle, der Lachs oder der Hering. Haie eher nicht.
Das Gedankenspiel lässt sich beliebig fortsetzen: Denken Sie an „Fahrzeug“ oder „Sitzmöbel“. Überlegen Sie, was „Arbeit“ oder „Liebe“ bedeutet. Wie ein typisches Blau aussieht?
Und was haben diese Prototypen mit Übersetzungen zu tun?
Der typischste Vertreter einer Kategorie unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. Ein Übersetzer muss dies beachten, um den Kontext des Ausgangsdokuments zu erhalten.
Ein prototypischer Vogel im mitteleuropäischen Raum ist zum Beispiel der Spatz. Dieser Vogel kommt zwar auch in weiten Teilen Südamerikas vor, dennoch ist er dort nicht prototypisch. Ein prototypischer Vogel wäre in Südamerika zum Beispiel der Tukan.
Wenn also eine Anspielung auf das unscheinbare Gefieder oder den zierlichen Schnabel des „Vogels“ in einem mitteleuropäischen Text erfolgt, muss dieses stilistische Mittel für den südamerikanischen Sprachraum angepasst werden.